Anorexie & Essstörungen: Wie kann sich das Richtige so falsch anfühlen?
Es gibt eine Unterhaltung, die ich sich gefühlt schon tausende Male zwischen mir und meinem Vater wiederholt hat. Diese beginnt ungefähr mit den folgenden Sätzen meinerseits:
„Papa, wenn ich auf die Waage steige, dann sehe ich eine Zahl, die eindeutig beweist, dass ich zunehmen muss. Und dennoch habe ich jedes Mal beim Essen ein beißend schlechtes Gewissen. Wie kann das sein? Die Zahl auf der Waage ist unbestreitbar, es ist überlebenswichtig zuzunehmen. Wie kann sich das Richtige so falsch anfühlen?“
Es ist ein Zwiespalt, der mich seit dem Beginn meiner „Recovery-Phase“ quält.
Auf der einen Seite steht mein
nüchterner Menschenverstand, der weiß, dass es einen Mindestgewicht für jede Größe gibt, welches für einen gesunden Körper nötig ist.
Alles was darunter liegt, bedeutet dass es irgendwo im Körper eine Unterversorgung gibt. Das ist von Wissenschaftlern und Mediziner erforscht und belegt worden, das sind Fakten.
Auf der anderen Seite steht mein verzerrtes, krankes Gewissen. Es redet mir ein, ich würde durch eine Zunahme aus allen Nähten platzen und zu einer großen, wabbeligen Qualle werden.
Es verschleiert meine Wahrnehmung von Portionen und sorgt dafür, dass mir manche Lebensmittel viel ungesünder vorkommen, als sie es tatsächlich sind.
Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich mittlerweile gelernt habe, diese zwei Seiten einzuordnen und zu unterscheiden. Trotzdem ist es jedesmal ein innerlicher Kampf, bei dem es wahnsinnig viel Kraft kostet, dem Menschenverstand treu zu bleiben und der Krankheit keine Beachtung zu schenken.
Jetzt, wo ich beide Seiten klar trennen kann, fällt es mir umso mehr auf, wie schwer es für Außenstehende sein muss, eine essgestörte Person zu verstehen. Immerhin verstehe ich es selbst nicht ganz. Es ist, als wären es wirklich zwei verschiedene Welten und doch kann ich beide Perspektiven nachvollziehen.
Von Außen kann man diese Gewissensbisse nicht sehen, zumindest nur die Wenigsten. Andererseits ist es unendlich schwer offen darüber zu sprechen, ich selbst habe Jahre gebraucht.
Alles was ich mir wünsche ist, ein bisschen mehr Klarheit und Verständnis für beide Seiten zu schaffen.
Ich kann nur aus meiner persönlichen Erfahrung sprechen und jeder Krankheitsverlauf ist individuell, aber ich für meinen Teil wusste und weiß, dass eine Gewichtszunahme essentiell ist und dennoch fiel und fällt es mir wahnsinnig schwer. Ich weiß genau, dass es das Richtige ist und doch fühlt es sich oft so falsch an.
Trotzdem gibt es für mich keine Alternative. Ich möchte gesund und glücklich leben und das ist der einzige Weg. Falls ihr auch damit zu kämpfen habt, schicke ich euch ganz viel Kraft und eine ganz große Umarmung.
Ihr seid nicht alleine und gemeinsam sind wir stärker als diese ekelhafte Krankheit.
Ps.: Ich hoffe, es ist klar, dass ich nichts gegen korpulente oder übergewichtige Personen habe. Dieser Artikel soll niemanden angreifen oder abwerten. Ich möchte damit lediglich schildern, dass der kranke Teil in mir den Übergang von einem Untergewicht zum Normalgewicht gar nicht in Erwägung zieht. Eine Vorstellung eines gesunden normalgewichtigen Körper existiert dort nicht. Und genau das zeigt, was für große Streiche die eigene Psyche uns selbst spielen kann.
Bitte nehmt auch den Titel nicht zu wortwörtlich. Im Endeffekt kann ich mir ja selbst erklären, wie beziehungsweise warum sich „das Richtige“ so „falsch“ anfühlt. Mit diesem Beitrag möchte ich nur versuchen, Außenstehenden einen Einblick in die wirre Gedankenwelt von Betroffenen zu geben. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass ich jemandem da draußen mit diesen Zeilen helfen kann.
Eure Sophie
2 Comments
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Micha
16. Juli 2018 at 10:16Hallo Sophie,
diesen Zwiespalt den du beschreibst kenne ich nur zu gut. Das Erschreckende dabei ist, dass die Zahl niemals „passen“ wird. Sie ist im Grunde eine einzige Lüge, die durch die Essstörung befeuert wird. Und dabei befindet man sich immer zwischen gesundem Menschenverstand (ich muss essen) sowie Anorexie (ich darf/brauch/soll nicht). Aber wir schaffen das ;).
Alles Liebe Micha
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Sophie Maria Rudolph
13. August 2018 at 7:56Hallo lieber Micha,
du sprichst mir wirklich aus der Seele. Die Essstörung findet immer wieder neue Begründungen und Vorgaben – man kann ihr gar nicht gerecht werden. Und deshalb ist es umso wichtiger stark zu bleiben und sich trotz dieses innerlichen Hin- und Hers auf den Menschenverstand zu konzentrieren, egal wie laut die andere Seite manchmal schreit. Ich bin mir sicher wir werden das schaffen und ich wünsche dir von ganzem Herzen alles alles Gute!
Sophie