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Anorexie & Essstörungen – Wenn Kalorien und Bewegung den Alltag bestimmen

Heute ist mal wieder einer dieser Tage, an denen ich unheimlich viel über die Vergangenheit und die Zukunft nachdenke. Manchmal überkommt es mich und plötzlich reflektiere ich wirklich schlagartig, was in den letzten Monaten passiert ist.

Sich von einer Essstörung zu lösen ist härter, als es für einen Außenstehenden scheinen mag. „Man muss doch nur essen!“ Aber das ist es nicht, denn das Essen ist in den meisten Fällen nur ein Symptom, dass auf viel tiefer verwurzelten Problemen basiert.

Bei mir war es so, dass ich an einem Punkt angekommen war, an dem ich das Gefühl hatte, dass das Essen das Einzige in meinem Leben war, worüber ich noch die Kontrolle hatte. Wie ein letzter Strohalm, an dem ich klammerte und diesen wollte ich natürlich keinesfalls loslassen.

Wenn ich jetzt daran zurück denke, läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Mein ganzer Tagesablauf drehte sich nur noch um Essen und Bewegung. Während ich versuchte mich nach Außen so normal wie möglich zu verhalten, ratterte es beispielsweise schon in meinem Kopf, wie ich auf dem Nachhauseweg einen Schlenker einbauen könnte, sodass ich mehr Kalorien verbrennen würde.

Um euch einen kleinen Einblick zu ermöglichen, wie krankhaft verzerrt meine gesamte Wahrnehmung war, möchte ich euch aus meiner Abitur-Zeit erzählen. Wer hätte gedacht, dass ich während meiner 6-stündigen Französisch-Prüfung gefühlt mehr darüber nachgedacht habe, ob ich zwischendurch etwas essen müsste, als über den Inhalt der zu schreibenden Klausur?

Mein Essen für einen Schultag mit 8 Unterrichtsstunden

„Muss ich überhaupt was essen, ich sitze doch nur?“

„Wenn ja, was soll ich essen – Gurke oder Tomaten?“

„Wie viel Kalorien sind es wohl wenn ich beides esse?“

„Wird jemand bemerken, was ich esse?“ 

„Was denken die Anderen von mir, wenn ich jetzt von der Möhre abbeiße, nicht dass sie das Knacken hören?“ 

„Wie schaffen es die Anderen Schokoriegel und Nüsse zu essen, obwohl wir hier 6 Stunden sitzen müssen?“

Solche Fragen rauschten durch meinen Kopf, anstelle von Verb-Konjugationen, die wesentlich angebrachter gewesen wären.

Von Zeit zu Zeit frage ich mich selber, wie mein Körper all das überstehen konnte. Tatsächlich habe ich während der Prüfungen, wenn ich überhaupt aß, nur rohes Gemüse gegessen. Ich hatte mir auch hochwertige Energie-Riegel ohne Zuckerzusatz eingesteckt, aber meist habe ich es schließlich doch nicht übers Herz gebracht sie zu essen.
Ich bin endlose Fahrradwege bei Wind und Wetter im höchsten Gang gefahren, ohne vorher zu frühstücken – habe im 5. Stock gewohnt und bin die Treppen alle 2 Stunden mit Jamie im Arm rauf und runter gerannt, je schneller desto besser. Mir ist tagtäglich so oft schwarz vor Augen geworden, dass ich heilfroh sein kann, dass mein Kreislauf nie ganz aufgegeben hat.

All diese Dinge kann ich heute sehen – damals konnte ich es nicht. Selbstverständlich habe ich gemerkt, dass mich die Leute mehr und mehr musterten. Auch ein paar meiner damaligen Freunde haben mich angesprochen und nachgefragt, ob alles gut sei. Dennoch konnte ich nie darüber reden. Ich war gefangen in einer anderen Welt, gefangen in der Krankheit.

 

Deshalb möchte ich euch bitten, niemanden mit einer Essstörung zu verurteilen. Ich habe das Alles nicht freiwillig gemacht, es ging damals nicht anders. Ich hatte nicht die Kraft, gegen diese innere Stimme, gegen diese Zwänge anzukämpfen.

Ich werde meine Dankbarkeit für den Klick-Moment und mein neues Leben niemals ausdrücken können. Vor allem die Dankbarkeit gegenüber meinem Vater, der nie von meiner Seite gewichen ist und mich zu jeder Zeit so stark unterstützt hat, wie es ihm nur möglich war.

Papa? Du hast mein Leben gerettet. Papa? Ich liebe dich.

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